Nach welchen Kriterien suchen Menschen Hunde im Tierheim aus und könnten diese Kriterien auch eine Rolle bei der Domestikation des Hundes gespielt haben?
Die Studie ist außerdem interessant, weil die Forscher ein anatomisch basiertes Codierungssystem für subtile Gesichtsmuskelbewegungen entwickelten und einsetzten. Dieses Codierungssystem DogFACS (siehe Link unten) soll exakte Beschreibungen, unabhängig von emotionaler Interpretation ermöglichen und diese mit anderen Tierarten vergleichbar machen, für die vergleichbare Codierungssysteme exisitieren.
Pädomorphe [kindliche] Gesichtsausdrücke verschaffen Hunden selektive Vorteile
Zusammenfassung
Was die Domestikation von Wölfen ursprünglich auslöste, ist unbekannt. Eine Hypothese besagt, dass Wölfe einen Prozess der Selbstdomestizierung durchliefen, weil sie menschliche Anwesenheit tolerierten und ihnen die Aasfresserei ihnen Vorteile verschaffte. Die welpenhaften körperlichen und Verhaltensmerkmale von Hunden, haben sich, so nimmt man an, als Nebenprodukt der Selektion gegen Aggression, später entwickelt. Wir haben die Vermittlungsgeschwindigkeit von Tierheimhunden als Ersatz für die künstliche Selektion benutzt und getestet, ob welpenähnliche Merkmale, Hunden in dieser Situation einen selektiven Vorteil verschaffen. Hunde mit einer Mimik, die ihnen ein kindliches Aussehen verleiht, wurden von Menschen bevorzugt ausgewählt. Daraus lässt sich ableiten, dass die frühe Domestikation von Wölfen nicht nur auftrat, weil Wolfspopulationen zahmer wurden, sondern auch, weil sie die menschliche Vorliebe für pädomorphe* Merkmale ausnutzten. Die Ergebnisse tragen zu unserem Verständnis früher Domestikation des Hundes, als komplexes Zusammenspiel evolutionärer Prozesse bei.
Hintergrund [Auszug]
Der erste Schritt, der den Domestikationsprozess von Wölfen zu Hunden ausgelöst hat, ist unbekannt. Eine Hypothese geht davon aus, dass Wölfe sich einer Selbst-Domestikation unterzogen, bei denen die zahmeren Individuen Vorteile aus der Tatsache zogen, dass sie während der Agrar-Revolution – als die Menschen sesshaft wurden – mehr Gelegenheit hatten, in den Abfällen nach Fressbarem zu suchen.
Aktuelle Hinweise darauf, dass Hunde durch genetische Mutationen stärkereichere Nahrung besser verwerten können, stützen diese Theorie. Während der Domestikation haben sich Hunde auf verschiedene Weise von Wölfen separiert, z. B. durch ihr Verhalten und ihre Größe, aber am auffälligsten ist ihr Pädomorphismus. In vielerlei Hinsicht scheinen Hunde eher Wolfswelpen zu ähneln, als erwachsenen Wölfen. Die pädomorphen Merkmale entwickelten sich, so nimmt man an, als Nebenprodukt der Domestikation – und entstanden zufällig mit der aktiven Selektion gegen Aggressivität.
Pädomorphe Merkmale könnten sich jedoch viel früher als Reaktion auf menschliche Einstellungen entwickelt haben. Hauskatzen haben ein modifiziertes Schnurren entwickelt, das zu einer erhöhten Fürsorgereaktion des Menschen führte, weil es das Weinen menschlicher Säuglinge nachahmt. Das kann die Toleranz gegenüber Katzen in der Umgebung des Menschen während der Domestikation erhöht haben. Ähnlich könnten sich die kürzere Schnauze und der breitere Schädel, die dem Hund ein welpenhaftes Gesicht verleihen (obwohl es Unterschiede zwischen den Rassen gibt), entwickelt haben, weil damit die gut dokumentierte menschliche Präferenz für pädomorphe Gesichtszüge ausgenutzt wurde.
Zu den pädomorphen Zügen gehören die verkürzten Schnauzen (wenn auch nicht bei jeder Rasse). Welpenhafte Gesichtszüge können zusätzlich durch den Einsatz der oberen Gesichtsmuskel verstärkt werden, deren Kontraktion die Brauen hebt und die scheinbare Höhe und Gesamtgröße der Augenhöhle (und damit die scheinbare Augengröße) erhöht. Relativ große Augen sind eines der bekanntesten Merkmale von menschlichen Kindern und werden als „süß“ wahrgenommen, was Menschen dazu bringt, sich um menschliche Kinder zu kümmern. Spielzeuge, mit diesen Merkmalen, wie Teddybären, werden bevorzugt, ebenso Katzen und Hunde mit diesen Merkmalen. Diese Selektion muss nicht bewusst gewesen sein.
In der aktuellen Studie verwendeten wir die Schnelligkeit der Wiedervermittlung von Tierheimhunden als Ersatz für die Selektion von Hunden über evolutionäre Zeiträume. Wir testeten, ob Menschen im Tierheim Hunde auswählen, die auf Grund der Kontraktion der Gesichtsmuskeln ein kindlicheres Gesicht haben. Der innere Augenbrauenheber (codiert: AU101) hebt die Augenbraue, vergrößert dadurch scheinbar die Augengröße im Verhältnis zum Gesicht und verstärkt den kindlichen Eindruck. Subtile Gesichtsmuskelbewegungen wurden mit dem anatomisch basierten Gesichtsmuskelcodierungssystem (DogFACS) aufgezeichnet. Wir untersuchten, ob die häufige Verwendung dieser Bewegung (AU101) und die Geschwindigkeit, mit der die Tierheimhunde vermittelt wurden, korreliert.
Datensammlung [Auszug]
29 Hunde wurden in vier Tierheimen beobachtet, die Daten von 27 (Altersbereich = 7-96 Monate) ausgewertet. Um Varianzen auf Grund von Rasseunterschieden zu minimieren, wurden nur Hunde vom Molossertyp (Staffordshire Bull Terriers, Mastiffs und Mischungen, klassifiziert mit Hilfe der Kriterien des UK Kennel Clubs) ausgewählt. Jeder Hund wurde zwei Minuten lang beim Erstkontakt mit dem Experimentator gefilmt. Der Experimentator näherte sich dem Zwinger des Hundes, blieb in neutraler Haltung mit ausgestreckter Hand davor stehen. Jedes 2-Minuten-Video wurde mit DogFACS codiert. Die Frequenz der Gesichtsbewegungen, die Dauer des Schwanzwedelns und die Zeit die der Hund an der Vorderseite des Zwingers in der Nähe des Experimentators verbrachte, wurden ausgewertet und mit der Anzahl der Tage bis zur Vermittlung (Tag der Vermittelbarkeit bis zum Tag des Verlassens des Tierheims) verglichen.
Ergebnisse [Auszug]
Die Häufigkeit von AU101 (Augenbrauenheben) und die Zeit an der Vorderseite des Zwingers waren die einzigen Variablen, die negativ mit der Aufenthaltsdauer bis zur Vermittlung korrelierten: Hunde, die diese Mimik häufiger zeigten, wurden schneller vermittelt. Schwanzwedeln korrelierte positiv: Hunde, die mehr Schwanzwedeln zeigten, wurden langsamer wiedervermittelt. Wir können voraussagen, dass ein Hund, der während der zweiminütigen Beobachtung fünf AU101 produziert, im Durchschnitt für 49,83 Tage im Tierheim bleiben wird, wenn er 10 AU101 produziert, nur 34,88 Tage und wenn er 15 produziert, nur 28,31 Tage.
Diskussion [Auszug]
Haushunde, die eine hohe Frequenz von AU101 zeigten, wurden schneller wiedervermittelt. Weil AU101 ein wesentliches pädomorphes Merkmal ist, deutet dies darauf hin, dass Hunde dieses Merkmal entwickelt haben, um die menschliche Präferenz für pädomorphe Merkmale zu manipulieren. Dies ist der erste empirische Beleg dafür, dass Pädomorphismus eine Schlüsselrolle bei der Auswahl von Hunden spielt. Wenn der Auswahlprozess im Tierheim die Selektion während der Evolution des Haushundes nachbildet, könnte diese Einstellung auch in der frühen Domestikation des Hundes eine Rolle gespielt haben.
Interessant ist, dass Schwanzwedeln und die Nähe zum Menschen keine starke Korrelation mit der Vermittlungsgeschwindigkeit zeigten, obwohl allgemein geglaubt wird, das dies Faktoren sind, die auf ein freundliches Wesen hinweisen. In der Tat, führte länger andauerndes Schwanzwedeln zu einem längeren Aufenthalt im Tierheim. Diese Daten unterstützen zunehmende Beweise dafür, dass indirekte Manipulation menschlicher Sinnespräferenzen (insbesondere die Vorliebe für jugendliche Gesichtszüge) eine besonders leistungsfähige selektive Kraft der Domestikation ist, mehr noch als echte Indikatoren des Temperaments. Wichtig ist, dass diese Mimik nicht mit einer Eignung als Haustier korrelieren muss. Sie wird aber - wie oberflächliche morphologische Merkmale - vor relevanten Verhaltensmerkmalen bevorzugt.
Bei Menschen ist die AU101 entsprechende Gesichtsbewegung AU1 (innerer Brauenheber) am Ausdruck menschlicher Traurigkeit beteiligt. Es ist daher möglich, dass die Interessenten nicht auf den Pädomorphismus an sich reagierten, sondern die Mimik der Hunde als Traurigkeit – auf Grund der Suche nach einem neuen Halter - interpretieren. Es ist auch möglich, dass Traurigkeit aus Pädomorphismus abgeleitet wird, weil sie die Kindlichkeit und die damit wahrgenommene Verwundbarkeit verstärkt. Eine andere Möglichkeit ist, dass Menschen auf die Zunahme der Sichtbarkeit der weißen Sklera bei Hunden reagierten. Menschen reagieren kooperativer und altruistischer, wenn sie sich von Augen beobachtet fühlen [dazu genügt schon das Foto von eines Augenpaares].
Quelle: Waller BM, Peirce K, Caeiro CC, Scheider L, Burrows AM, et al. (2013) Paedomorphic Facial Expressions Give Dogs a Selective Advantage. PLoS ONE 8(12):
e82686. doi:10.1371/journal.pone.0082686
*Pädomorph: Merkmale, die ursprünglich frühe (juvenile, kindliche, jugendliche) Entwicklungsstadien kennzeichnen, bleiben beim erwachsenen Tier erhalten.
Die Website mit Infos zum Codierungssystem „dogfacs“: http://www.dogfacs.com/
Quelle
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