von Kailyn » 06.02.2014, 19:40
Je mehr ich davon lese, desto gruseliger wird das Ganze ja. Ich bin erst vor Kurzem darauf aufmerksam gemacht worden und habe mir das Konzept dann sehr genau angesehen. Obwohl ich bereits vorher eher abgeneigt war, das zu glauben, bin ich ja sehr neugierig und befasse mich grundsätzlich mit allen Theorien, um vergleichen zu können und Schlussfolgerungen zu ziehen, mit Einbeziehung des aktuellen Wissenstands der Kynologie. Nachdem ich dann recht schnell zu dem Schluss gekommen bin, dass dieses Rudelstellungskonzept erhebliche Lücken aufweist, habe ich dann Thomas Riepe gefragt, was er davon hält, weil ich einfach auch eine weitere Expertenmeinung wollte. Aber der findet das genauso abenteuerlich wie ich und hat mir dann auch nochmal ein bisschen was über die "Rudelstruktur" verwildeter Haushunde erzählt, wodurch eigentlich klar wird, dass die Rudelstellung ein Konzept ist, das schlichtweg nicht stimmt.
Hier mal, was ich davon halte:
1. Rudelstrukturen von wildlebenden Wölfen (Familie) sind mit Rudelstrukturen von Haushunden (in der Regel nicht-verwandte Tiere) nicht zu vergleichen. Da der Hund außerdem als einer der wenigen, vielleicht sogar als einziges domestiziertes Haustier, dazu in der Lage ist, durch intensive Fehlprägung auch den Menschen als Sozialpartner zu akzeptieren, müsste der Mensch in diese Rudelstruktur grundsätzlich mit eingebunden werden. In einem Rudel verwilderter Haushunde fehlt der Mensch als Sozialpartner. Ich finde nicht, dass man die Strukturen wildlebender Wölfe und verwildeter Haushunde direkt mit einer Hund-Mensch-Beziehung vergleichen kann.
2. Laut dieser Philosophie ist es nicht möglich, einen Einzelhund zu halten, ohne ihn dauerhaft zu schädigen. Selbst zwei Hunde sind zu wenig, das Minimum wären drei. Vergesellschaftung funktioniert nur noch über angeborene Rudelpositionen - was ich ehrlich gesagt für ausgesprochenen Schwachsinn halte.
3. Die Theorie der angeborenen, nicht veränderlichen Rudelstellung beißt sich mit der erwiesenen Abwanderungstendenz, die tatsächlich bereits im Welpenalter festgestellt werden kann.
Zu denken gibt einem, dass diese Frau die angeborene Rudelstellung direkt nach der Geburt feststellen will (und anscheinend sogar anhand der chronologischen Reihenfolge, welcher Welpe wann geboren wurde) und zudem behauptet, dass man die Hunde dieser Stellung entsprechend erziehen muss. Die Vermutung liegt nahe, dass die Hunde durch ihre Auffassung, welcher Rudelposition sie angehören, gezielt auch in diese Stellungen gepresst werden. Wer weiß schon, inwiefern diese Stellungen angeboren oder anerzogen sind, wenn der Mensch von Geburt an als Aufgabenverteiler fungiert. Was man im Netz so über Barbara Ertel findet, ist recht merkwürdig. So scheint sie meines Erachtens eine Art Gurumentalität an den Tag zu legen und zeigt sich wenig kooperativ, wenn es um die Diskussion gegenüberstellender Theorien geht. Sie will gar nicht darüber diskutieren oder es von irgendwem infrage stellen lassen, sondern sieht diese Philosophie als eine Art unverfälschtes Wissen an und jeder, der es kritisiert, habe es ganz einfach nicht verstanden (irgendwie erinnert mich diese Haltung ganz generell daran, wie oft das Totschlagargument "Du verstehst das einfach nicht" kommt, wenn man nicht mehr in der Lage ist, vernünftig zu argumentieren).
Seltsam ist, dass diese Philosophie so neu angeblich nicht sein soll und in Spanien die Meuteführer ihre Rudel, laut ihrer Aussage, alle so aufbauen. Wenn ich mir vorstelle, dass diese Meuten hin und wieder aus 100 oder mehr Hunden bestehen, frage ich mich schon, wie das funktionieren soll. Und ich frage mich, warum bisher niemand etwas von dieser Rudelstellungs-Theorie wusste, wenn sie doch seit über 200 Jahren praktiziert wird und Frau Ertel mit diesem Wissen durch die halbe Welt gereist ist.
Dass es angeborene Hundetypen gibt, davon bin ich überzeugt. Jeder Hund hat schließlich genauso eine individuelle Persönlichkeit, wie jeder Mensch. Ich glaube aber nicht, dass die "angeborene Rudelstellung" A) schon ab der Stunde der Geburt anhand der Schlafposition festlegbar ist, B) komplett unabänderlich bleibt, C) Vergesellschaftung nur und ausschließlich mit einem "perfekten Rudel" funktioniert und alles andere nur auf Konflike hinausläuft und D) die Stärkung des Selbstbewusstseins eines beispielsweise tendenziell submissiven Hundes dazu führt, dass der Hund einen Sockenschuss bekommt.
Die Rudelstellung wird bei Wölfen und Hunden gleichermaßen angewandt. Dass dies Schwachsinn ist, wird dadurch klar, dass Wölfe und Hunde in verschiedenen Gemeinschaftsstrukturen leben und Hunde eben KEINE Wölfe sind. Wölfe leben in Familien, bestehend aus den beiden Elterntieren und deren Nachwuchs. Erwiesenermaßen (durch David Mech und Günther Bloch) ist das Sozialgefüge von Wölfen geprägt durch verantwortungsbewusste Elternschaft. Die beiden Elterntiere führen das Rudel nur aus einem Grund an: Sie sind die Eltern. Die hierarchische Struktur des restlichen Rudels ist äußerst flexibel und keinesfalls starr. Einige Nachkommen in Wolfsrudeln wandern ab. Die Tendenz dazu lässt sich bereits im Welpenalter erkennen. Wölfe, die abwandern und eigene Rudel bilden, nehmen dadurch ganz automatisch eine neue Position ein, denn sie werden nun selbst Eltern.
Hunde bilden, ohne Einfluss des Menschen, keine hierarchisch strukturierten Rudel. Verwilderte Haushunde streifen meist allein umher, bilden zufällig, sporadisch, manchmal auch regelmäßig Gruppengemeinschaften mit starker Fluktuation, einen Rudelführer in diesem Sinne gibt es nicht. Über längere Zeit gemeinschaftlich lebende Rudel bestehend meist aus Mutter und Nachwuchs. Organisierte Rudel sind äußerst selten auch auch hier gibt es Abwanderungen, wodurch sich die Positionen der Individuen wieder völlig verändern können. Hunde sind sehr anpassungsfähig und ihre Rudelpositionen ändern sich durch verändernde Umstände immer wieder. (Empfohlene Lektüre zu diesem Thema: "Die Pizza Hunde" von Günther Bloch)
Es gibt Unterschiede zwischen dem Verhalten innerhalb der Gruppe, und dem Verhalten außerhalb der Gruppe. Besonders Mehrhundehalter werden schon über das Phänomen gestolpert sein, dass einer ihrer Hunde, der zu Hause im eigenen Rudel eher der "Buhmann" ist, außerhalb der Gruppe, beim Aufeinandertreffen mit anderen Hunden, plötzlich zum Oberzampalo wird. Oder auch umgekehrt. Ich selbst habe zwei Hunde, deren Verhalten innerhalb und außerhalb der Gruppe gegensätzlicher nicht sein könnte! Das Mädel ist zu Hause der Boss, der Rüde draußen. Situativ ändert sich das sogar hin und wieder.
Die Theorie der Rudelstellung ist und bleibt nichts anderes als eine Theorie, die weder belegbar ist, noch, in Anbetracht der aktuellen ethologischen Erkenntnisse, nur ansatzweise Sinn ergibt. Es gibt Hundetypen - mutige, ängstliche, unsichere, offensive, ruhige, nervöse, führende, folgende. Aber auch diese passen sich nur ihren Umständen an.
Wenn ich nun mit einbeziehe, dass Hunde untereinander getauscht und Welpen ihrer Mutter weggenommen werden sollen (ich dachte, man dürfe sie anfangs gar nicht anfassen? Logik?), damit das Konzept passt, finde ich das sogar reichlich krank, vor allem, wenn eine Nichteinhaltung des Konzepts angeblich zu mentaler Zerstörung führen soll. Überhaupt spricht sie bei allen Hunden, die nicht nach diesem Konzept aufgezogen, vergesellschaftet und trainiert werden, von "mentaler Zerstörung".
Ganz ehrlich, das ist einfach nur gefährlich. Und schlimm, wirklich schlimm. Ich kann gar nicht glauben, dass jemand wie Frau Nowak, die das Thema Hundepsychologie zumindest studiert hat (wobei das kein akademisches Studium ist und es mich brennend interessieren würde, WO sie das studiert hat und warum sie beim Thema Lernverhalten ganz offensichtlich geschwänzt hat), sich so eine hanebüchene Theorie auf die Weste stickt. Es wird immer von "genetischer Vererbung" gesprochen, obwohl bis heute nicht bewiesen ist, dass es in dieser Hinsicht eine genetische Vererbung gibt (es gab ja keine wissenschaftlichen Studien dazu). Das heißt, dass dieses ganze Konzept nicht mehr als eine Behauptung ist und der Teil mit der Genetik sogar bewusst gelogen - denn man kann nicht einfach von einem genetischen Fakt sprechen, wenn dieser bisher nie erforscht und bestätigt wurde.
Da Andersdenkende sehr vehement ausgeschlossen werden und dieses ganze Konzept mit Frau Ertel als Guru an der Spitze wirklich äußerst radikale Ansichten vertritt, wobei jeder Versuch einer kritischen oder neutralen Beleuchtung abgeschmettert wird, sowie Hunde in dieser Gemeinschaft gar keine Namen mehr bekommen, sondern nur noch die Kürzeltitel ihrer Rudelstellung (wie "NLH" für Nachrangleithund oder "V3" für Vorrangiger 3. Bindehund), kann ich leider nicht umhin, hier von gewissen Zügen einer Sekte zu sprechen. Und ich finde das einfach nur gruselig. Zudem die These von einem Mann stammt, der 1810 geboren wurde, 100 Jahre vor der Zeit, als Konrad Most sein Dominanz-Regime in der Hundestaffel einführte. Seitdem ist diese Theorie nie weiterentwickelt worden, sondern von Vater zu Sohn über drei Generationen, bis zu Barbara Ertel weitergereicht worden (und NUR dort!) und wenn wir Frau Ertel Glauben schenken, die nach eigenen Aussagen jahrzehntelang in Isolation von der Hundeszene und der Kynologie lebte und jetzt entschieden hat, ihr Wissen auf dem Stand von vor 200 Jahren in die Welt zu tragen, ist dies schlichtweg antiquiertes Wissen, das uns zurück in die Steinzeit wirft. Jeder, der diesem Konzept nacheifert (und das sind traurigerweise nicht wenige), sollte sich mal an den Kopp fassen. Als ob es in der Genetik und der Sozialwissenschaft in den letzten 200 Jahren keine neuen Erkenntnisse gegeben hätte. Es gab bereits Studien zu Rangreduktionsprogrammen und diese haben erwiesen, dass solche Programme Hunde eher unsicher und reduktiv machen (ihr wisst schon - der Mensch isst immer zuerst, geht immer zuerst durch die Tür, blabla. Und jetzt der ganze Zirkus nochmal mit den eigenen Hunden...).
Nowak ist bei mir unten durch, ganz ehrlich. Und diese Rudelstellungstheorie halte ich für schlichtweg gefährlich. Ich warte nur auf den Tag, an dem ein Hund in eine Position gezwungen wird, die er situativ ohne die Manipulation durch den Menschen gar nicht einnehmen würde - und sich dann wehrt, aber so richtig.
"At least, we all are Earthlings." (Joaquin Phoenix)