Straßenhunde in Europa
Ein Leben in Freiheit oder ein Leben in Gefahr?
Wer in süd- oder osteuropäische Länder reist, sieht nicht selten Straßenhunde. Oftmals sind es so viele, dass Städte und Gemeinden einschreiten. In vielen Ländern wird regelrecht Jagd auf die frei laufenden Tiere gemacht. Im Netz kursieren unzählige Fotos und Videos von misshandelten, vergifteten oder verstümmelten Streunern. Aber ist das Leben eines Straßenhundes tatsächlich nur gefährlich oder kann es durchaus auch schön sein? Tierpfleger Stefan Kirchhoff hat mehrere Länder bereist und sich die Situation der Straßenhunde angesehen. Hier sind seine Beobachtungen.
Italien
Im Norden des Landes sind kaum Straßenhunde zu sehen, südlich von Rom dagegen werden es immer mehr. Sie leben nur selten in Gruppen und sind eher Einzelgänger.
Das Leben eines italienischen Straßenhundes hat durchaus seine schönen Seiten. Das Klima ist fast das ganze Jahr relativ mild und Futter gibt es an jeder Straßenecke, dank der Mülltonnen. Zudem werden die herrenlosen Hunde in der Regel geduldet. Sie suchen sich oft ihr Zuhause selbst, indem sie sich einzelnen Häusern oder Geschäften anschließen. Nicht selten werden sie von den Eigentümern versorgt.
Ihr angenehmes Leben verwandelt sich erst dann in ein elendiges Dasein, wenn sie von Hundefängern eingefangen und in staatliche Tierheime, die Canile, gebracht werden. Hier leben sie oft jahrelang hinter Gittern, mit nur wenig Futter und Wasser, keinerlei medizinischer Versorgung und teilen sich die kot- und urinverschmierten Zwinger mit etlichen Artgenossen.
Laut Gesetz ist das Töten der Hunde seit 1991 verboten und so werden sie bis zu ihrem Tod in den Canilen verwahrt. Diese staatlichen Tierheime werden gewerblich betrieben und die Betreiber bekommen Geld pro Tag und pro Hund. Je mehr Hunde sie einfangen und umso weniger sie für die Versorgung ausgeben, desto lukrativer ist dieses Geschäft.
Der einzige Ausweg für die Hunde ist die Rettung durch Tierschützer, die sie in privaten Tierheimen unterbringen und dann oft ins Ausland vermitteln. Dort haben sie Aussicht auf ein gutes Leben – aber nicht alle Hunde haben dieses Glück.
Manche verbringen auch hier den Rest ihres Lebens hinter Gittern. Und die Zustände in den privat geführten Tierheimen sind oft sehr grenzwertig. Zwar bekommen die Hunde ausreichend Nahrung und werden medizinisch versorgt, aber häufig sind es einfach zu viele Hunde und zu wenige Mitarbeiter. Die verlieren schnell den Überblick und sehen nicht, wenn Hunde gemobbt werden und den ganzen Tag in nur einer Ecke verbringen ohne sich zu bewegen. Ob staatliches Canile oder privates Tierheim – die Hunde fristen eingesperrt ein eintöniges Dasein, obwohl sie ein relativ gutes Leben auf der Straße hatten.
Spanien
Im Gegensatz zu Italien und vielen anderen Ländern Europas gibt es in Spanien kaum Straßenhunde. Das verwundert, kommen doch viele Auslandshunde in Deutschland von dort. Frei laufende Hunde sind in Spanien aber lediglich in ländlichen Provinzen oder Waldgebieten zu finden. Diese Hunde sind meistens sehr scheu und kommen nur im Dunklen aus ihren Verstecken hervor. So entgehen sie den staatlichen Einfangaktionen.
Denn in Spanien ist das Einfangen, Verwahren und Töten der Hunde seit Jahrzehnten gängige Praxis. Ein einheitliches Tierschutzgesetz gibt es in dem südlichen Urlaubsland nicht. Jede autonome Region macht ihre eigenen Tierschutzgesetze. Die verbindlichen Vorgaben der Regierung beschränken sich darauf, dass Streuner von der Straße geholt und artgerecht für mindestens zehn Tage untergebracht werden müssen. Wie das aussehen soll, ist nicht näher definiert.
Die eingefangenen Hunde kommen in die sogenannten Perreras. Das bedeutet übersetzt „Zwinger“. Die Perreras sind aber nicht vergleichbar mit Tierheimen in Deutschland. Es sind eher Tötungsstationen, in denen die Hunde nur wenig bis gar nicht versorgt werden. Hunger, Durst und Beißereien sind keine Seltenheit. Eine medizinische Versorgung findet überhaupt nicht statt. Nach Ablauf einer Frist von zehn bis 21 Tagen dürfen die Tiere getötet werden. Die Chance auf ein gutes Leben in Freiheit haben die Hunde nicht.
Ungarn
Auch in Ungarn sieht man auf den Straßen nur vereinzelt frei laufende Hunde. Das hat zwei Gründe:
Zum einen sind auch hier täglich Hundefänger unterwegs, die Straßenhunde einfangen und in staatlichen Tierheimen unterbringen. Nach 14 Tagen dürfen sie getötet werden.
Zum anderen ist Kettenhaltung weit verbreitet. Die Hunde werden als Wachhunde gehalten und verbringen ihr Leben an einer manchmal nur ein Meter langen Eisenkette. Ihr einziger Rückzugsort ist oft eine notdürftige Hundehütte, die weder vor Kälte noch vor Hitze schützt. Wasser und Nahrung gibt es nicht immer regelmäßig.
Das Straßenhundeproblem könnte man in Ungarn oder Spanien als gelöst ansehen. Aber der Preis dafür ist hoch: Zehntausende Hunde müssen dafür jährlich eingefangen und getötet werden. Und es kommen ständig Hunde nach. Ohne Kastrationsaktionen werden es nicht weniger.
Rumänien
Hier leben sehr viele Hunde auf den Straßen. Vor allem in und um Bukarest, der Hauptstadt des Landes.
Der Grund dafür liegt in der Geschichte des Landes: Der von 1965 bis 1989 herrschende Diktator Nicolae Ceausescu wollte die rumänischen Großstädte in produktive Metropolen verwandeln und befahl der Landbevölkerung in die eigens dafür gebauten Plattenbausiedlungen zu ziehen. Die Hunde blieben zurück oder wenn sie mitkamen, lebten sie außerhalb der Wohnungen. Das war aber nur der Beginn der Straßenhundeproblematik.
Hunde werden immer noch ausgesetzt und nicht kastriert. Außerdem gibt es in Rumänien einen florierenden Hundemarkt. Züchter machen mit Rassehunden Profit, Absatz finden sie genug. Denn für viele Menschen ist ein Rassehund immer noch ein Statussymbol. Wenn der Hund zu anstrengend wird, erfährt er das gleiche Schicksal wie seine nicht reinrassigen Artgenossen.
Die Politik hat bisher keine Lösung geboten. Mit jeder neuen Regierung ändert sich auch der Umgang mit den Straßenhunden. Mal werden sie in Ruhe gelassen, mal werden sie zu Tausenden eingefangen und getötet. Das neueste Gesetz aus dem Jahr 2013 erlaubt das Töten der Hunde nach 14 Tagen. Aber Tierschützer haben Einspruch eingelegt. Mit der Begründung, dass mehrere Punkte in den Anwendungsnormen (des Tötungsgesetzes) dem bestehenden Recht widersprechen. Das Appellationsgericht in Bukarest gab den Tierschützern Recht. Die Anwendungsnormen wurden mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Seitdem ist das Einfangen der Hunde zwar noch erlaubt, aber das Töten illegal. Zumindest so lange, bis ein anderes Gericht eine neue Entscheidung trifft.
Die Hundehaltung ist in Rumänien ganz anders als in Deutschland: Die Hunde leben nur selten im Haus. Sie werden entweder als Wachhunde auf einem eingezäunten Gelände gehalten oder sind den ganzen Tag auf der Straße, sozusagen als frei laufende Besitzerhunde. Diese Hunde haben ein angenehmes Leben mit vielen Freiheiten. Sie können den ganzen Tag selbst entscheiden, was sie wann tun und werden zugleich versorgt und geliebt. Zwar sind sie vielen Gefahren wie dem Verkehr, den staatlichen Hundefängern oder Vergiftungsaktionen ausgesetzt, aber solange sie in Ruhe gelassen werden, haben sie ein gutes Leben auf der Straße
Griechenland
Griechenland hat nur wenige staatliche Tierheime, es sind auch keine Hundefänger unterwegs. Die wenigen Tierheime, die es gibt, werden von den Städten oder Gemeinden mitfinanziert oder sind rein privat. Der Staat kümmert sich kaum um die Straßenhundeproblematik.
Dabei leben auf dem Festland sehr viele Straßenhunde, die Inseln dagegen sind weitestgehend frei von Streunern. Auf den Straßen sind vor allem Herdenschutz-, Jagdhunde und deren Mischlinge zu sehen. Das liegt daran, dass in Griechenland die Schafhaltung immer noch eine große Rolle spielt und die Jagdleidenschaft relativ hoch ist.
Der Wert eines Hundes misst sich hauptsächlich an seiner Funktion als Beschützer oder Jäger. Wenn das Tier nicht mehr die Leistung bringt, die es soll, wird es getötet oder ausgesetzt. Viel Geld wird kaum in sie investiert. Einen Tierarzt sehen sie selten, folglich sind die wenigsten kastriert. So vermehren sich die Straßenhunde immer weiter.
Zumindest können sie in großen Teilen des Landes entspannt leben, weil sie vom Staat in Ruhe gelassen werden. Allerdings hat die passive Haltung des Staates auch ihre Kehrseite für die Hunde. Verstöße gegen das vorhandene Tierschutzgesetz werden nicht streng geahndet, Tierquäler nur selten bestraft und miserable Haltungsbedingungen nicht kontrolliert.
Außerdem fühlt sich die Bevölkerung mit dem Straßenhundeproblem allein gelassen und so nehmen viele Menschen die Reduzierung der Populationen selbst in die Hand. Misshandlungen, Erschießungen und Vergiftungsaktionen sind keine Seltenheit. Würde also der griechische Staat sich für staatlich subventionierte Kastrationen einsetzen, könnte das entspannte Leben der griechischen Straßenhunde von größerer Dauer sein.
Türkei
Hier gibt es schon seit mehr als 15 Jahren ein gut funktionierendes Tierschutzgesetz, das das Einfangen, Kastrieren und Aussetzen der Straßenhunde vorschreibt. Und das alles finanziert vom Staat!
Zudem ist der Großteil der Bevölkerung – so wie in den meisten Ländern Süd- und Osteuropas auch – den frei laufenden Hunden gegenüber positiv eingestellt. Die Streuner suchen sich nicht selten ihr Zuhause selbst, wo sie geduldet und versorgt werden. Einige Gemeinden haben sogar sich selbst auffüllende Wassernäpfe für die streunenden Hunde und Katzen angeschafft. Und viele Menschen bringen Straßenhunde eigenhändig zum Tierarzt, um sie dort kastrieren zu lassen.
In keinem anderen Land werden Kastrationen so konsequent durchgesetzt wie in der Türkei, und trotzdem leben hier neben Rumänien die meisten Straßenhunde in Europa. Um die Hundepopulation deutlich zu reduzieren, müssten die Kastrationsprojekte flächendeckend umgesetzt werden. Das ist in manchen Landesteilen noch nicht der Fall. Außerdem lassen etliche Hundehalter ihre frei laufenden Besitzerhunde nicht kastrieren und setzen ungewollte Welpen aus. Die vermehren sich weiter.
Laut Informationen von Tierschützern wollen türkische Behörden dieser Flut an Straßenhunden entgegenwirken, indem sie in der Nähe von Istanbul ein riesiges Tierheim bauen lassen, das Platz für mehr als 20.000 Hunde bieten soll.
Wie das mit dem bestehenden Tierschutzgesetz konform gehen soll, ist noch unklar. Sicher ist: wenn dieses Projekt Schule macht, wird ein glückliches Leben in Freiheit auch für Straßenhunde in der Türkei kaum mehr möglich sein. Denn nur wenn die Voraussetzungen stimmen, kann das Leben eines Streuners auch schön sein.
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